Rudolf von Eichthal

Rudolf von Eichthal

Aus dem Buch „Der grüne Federbusch“ von Rudolf von Eichthal. Von Eichthal war Offizier, Schriftsteller und Musiker. Er schrieb zahlreiche Romane über das alte Österreich und ist ein besonderer Kenner der österreichischen Kultur-Seele:


Die Landeshauptstadt Czernowitz stand zu jener Zeit in der ganzen Monarchie im Ruf einer höchst geselligen, einer vergnüglichen, lebenslustigen Stadt.

Jedermann, damals auch nur einen Fuß über den Pruth gesetzt, auch nur eine Nacht im Schatten des doppeladlergekrönten Czernowitzer Rathausturmes geschlafen hatte, wusste nicht genug zu erzählen von der Friedfertigkeit, Verträglichkeit und harmlosen Fröhlichkeit, mit der dort Deutsche, Rumänen, Ruthenen, Russen, Polen, Armenier und Ungarn, Katholiken, Lutheraner, Kalviner, griechische Orientalen, griechische Katholiken, armenische Katholiken und Juden einträchtig mitsammen lebten. Jeder gönnte dem anderen neidlos das Seine, niemand dachte daran, den Nebenmenschen in seiner Sprache, in nationalen Sitten und Gebräuchen irgendwie zu stören oder zu beeinträchtigen. Polen, Rumänen und Ruthenen besuchten die Feste der Deutschen und diese wieder die Veranstaltungen der anderen Nationen; Christen aller Bekenntnisse beteiligten sich arglos an der Auferstehung- und Fronleichnamsprozession der Katholiken und diese dagegen an der Wasserweihe der Orthodoxen. „Leben und leben lassen“ war der Wahlspruch jener liebenswürdigen Stadt zu einer Zeit, da der schöne Spruch anderswo längst schon zum alten Eisen geworfen war.

Kurz gesagt, dieses weltentlegene, im Westen so gut wie unbekannte Czernowitz war damals so eine Art Österreich-Ungarn im kleinen: eine Miniaturausgabe jenes wundervollen Völkermosaiks, jenes einzigartigen Staatsgebildes, von dem der alte Palacky seinerzeit sagte, es müsste, wenn es nicht bestünde, neu geschaffen werden, und das der Franzose Victor Hugo geradezu „die Vereinigten Staaten von Europa“ genannt hat; jenes Reichs, in dem siebenundvierzig Millionen Menschen, zehn verschiedenen Sprachen, wenn auch nicht immer ganz friedfertig, so doch im allgemeinen glücklichen und zufrieden miteinander lebten; jener Verwirklichung des wunderbaren paradiesischen Zustandes, in dem es weder Völker- noch Rassenhass, weder Klassen- noch Religionskämpfe gab.

Und wie kam diese Czernowitz Wunder zustande?

Zum ersten durch die dem Österreicher angeborene und von ihm gleichsam mit der Muttermilch aufgenommenen Gabe, mit fremden Völkern zu leben, sich mit ihnen zu vertragen, schwierige politische Verhältnisse zu meistern, Gegensätze zu überbrücken, aufgeregte Gemüter zu beschwichtigen, unversöhnliche Gegner zu versöhnen, unentwirrbar Scheinendes zu entwirren, Auseinanderstrebendes schließlich doch unter einen Hut zu bringen; zum zweiten durch das in der alten Habsburgermonarchie von jedem Staatsdiener geforderte Verständnis für die Eigenart der zu regierenden Völker, durch die sorgsame Bedachtnahme auf ihre Kultur, Sitten und Lebensgewohnheiten, auf die Pflege des Bestehenden, Althergebrachten, das Festhalten am Bewährten, längst Erprobten an der Stelle überstürzter Neuerungen; zum dritten durch die unendliche Langmut und Geduld, die große und schwere Kunst des Zuschauens, des Abwartens, die im alten Österreich jeder Machthaber vom Kaiser angefangen bis hinunter zum letzten Bezirkshauptmann übte und notwendig üben musste; zum vierten endlich durch die sorgfältige Vermeidung des „Hineinfahrens mit dem eisernen Besen“, das anderswo vielleicht am Platz, hier aber der Elefant im Porzellanladen gewesen wäre. Alles in allem also durch ein Regieren mit Geduld, Nachsicht, Verständnis und Güte an Stelle von Härte und Strenge, mit gelegentlicher Nachgiebigkeit an Stelle eiserner, starrer Unnachgiebigkeit, dabei aber doch wieder mit zäher, das Ziel niemals aus den Augen verlierender Beharrlichkeit, mit einem Wort durch ein Verfahren, das man in Österreich selbst spöttisch als „Fortwursteln“, im Ausland verächtlich als „österreichische Schlamperei“ bezeichnete, das aber in Wahrheit unter den gegebenen Verhältnissen höchste Weisheit, höchste Regierungskunst war und vielleicht das Geheimnis jeder wirklich erfolgreichen Kolonisierungsarbeit ist.

Im übrigen gab es in Czernowitz noch ein einigendes Band, das alle Bewohner der schönen Pruthstadt umschlang, einen Boden, auf dem sich alle ausnahmslos zusammenfanden: die alles verbindende deutsche Umgangssprache, die jedermann in der ganzen Stadt vom Landeschef angefangen bis hinunter zum letzten ruthenischen Lastträger sprach oder doch wenigstens zur Not verstand.

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